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Liebe Leserin, lieber Leser,

trotz blendender Zukunftsaussichten und einer sehr guten Bilanz der letzten Jahre hat die Fahrradwirtschaft aktuell einen Durchhänger. Die durch Corona ausgelöste Lieferkettenproblematik führte zunächst zu einer Mangelversorgung und nun zu einem Warenüberschuss im Markt. Schwankungen wie diese sind nicht untypisch, bedeuten aber gleichwohl für Industrie und Handel eine angespannte Phase. Erschwerend zu den vollen Lagern kommt die inflationsbedingte Kaufzurückhaltung der Verbraucher*innen. Das ist übrigens kein rein deutsches Phänomen. In der Schweiz sieht es ähnlich aus.

In solchen Zeiten wären gute Nachrichten aus der Politik besonders wertvoll, denn die Rahmenbedingungen für den Radverkehr sind noch immer nicht so, wie sie im Sinne der Verkehrswende sein sollten. Und tatsächlich gibt es eine gute Nachricht: So hat Verkehrsminister Volker Wissing eine Verlängerung des erfolgreichen und für die Infrastruktur vor Ort sehr wichtigen Sonderprogramms „Stadt und Land“ bis 2028 bekannt gegeben. Mit den bereitgestellten 805 Mio. Euro bekommen Länder und Kommunen nun Planungssicherheit für die Co-Finanzierung einer guten Radverkehrsinfrastruktur. Und die ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Radfahren sicherer und komfortabler wird und immer mehr Menschen Fahrräder und E-Bikes nachfragen. Der Expertenrat für Klimafragen hat die Bundesregierung zuletzt eindringlich gemahnt, alle Optionen für einen wirksamen Klimaschutz zu nutzen. Gerade im Verkehrssektor, bei dem es die größten Defizite gibt, kann ein verstärkter Radverkehr viel zum Klimaschutz beitragen – wenn die Infrastruktur zum Radfahren einlädt und als attraktive, sichere Mobilitätsalternative wahrgenommen wird.

Herzliche Grüße

Ihr
unterschrift_ah
Albert Herresthal
Informationsdienst Fahrradwirtschaft
Die Themen dieser Ausgabe:
  1. EU-27 plus GB: Potenzial der europäischen Fahrradwirtschaft
  2. Fahrradsicherheit: Kritik an der BMDV-Kampagne „#mehrAchtung“ 
  3. Trends der Fahrradtechnik: ABS beim Fahrrad - Sicherheit auf dem Vormarsch
  4. Nachhaltigkeit: Meilenstein ökologischer Fahrradreifen
  5. IAA Mobility 2023: Fahrradbranche übt Zurückhaltung
  6. Beispiel Tübingen macht Schule: NRW gibt S-Pedelecs bessere Chancen
  7. IFW exklusiv: 3 Fragen an ... Ralf Kindermann
  8. Kurzmeldungen
  9. Termine
Verband der Europäischen Fahrradindustrie (CONEBI)

EU-27 plus GB:
Potenzial der europäischen Fahrradwirtschaft

Bei einer Eurobike Pressekonferenz gab der General Manager des Verbands der Europäischen Fahrradindustrie (CONEBI), Manuel Marsilio, einen Überblick zur Entwicklung der Fahrradwirtschaft in den Ländern der EU plus Großbritannien. Wichtigste Nachricht: Die Beliebtheit von  elektrounterstützten Fahrrädern nimmt in Europa weiterhin zu. So wurden 2022 rund 5,5 Millionen E-Bikes verkauft, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 8,6%. Dieses Wachstum ging allerdings zu Lasten der unmotorisierten Fahrräder, der Gesamtverkauf von Fahrrädern und E-Bikes lag mit 20,2 Millionen Stück sogar 9,1% unter dem Wert von 2021. Am beliebtesten ist das „Bio-Bike“ ohne Motor in Großbritannien. Dagegen sind E-Bikes vor allem in Deutschland, Frankreich und in den Niederlanden gefragt.

Der europäische Gesamtumsatz mit Fahrrädern und E-Bikes lag 2022 bei 21,2 Milliarden Euro. Davon investierte die Industrie rund 2 Milliarden Euro in die Entwicklung und in moderne Produktionsanlagen. So wurden 15,3 Millionen Fahrräder und E-Bikes in Europa hergestellt (- 5%). Mehr als jedes Dritte davon war elektrifiziert, ein Anstieg um 19%. Die positive Entwicklung spiegelt sich auch in den gestiegenen Beschäftigtenzahlen wider (+ 3%). So gibt CONEBI die Zahl der „Green Jobs“ mit 180.000 an, davon sind 89.000 direkt der Produktion zuzuordnen. Hinzu kommen rund 200.000 Jobs im Handel.

Mit Sitz in Brüssel hat CONEBI als Stimme der europäischen Fahrradindustrie politisches Gewicht. Zuletzt wurde der Verband von der Europäischen Kommission zum Co-Vorsitzenden des Gremiums „EU Mobility Transition Pathway“ ernannt. In diesem Gremium wird die langfristige Industriestrategie der EU im Mobilitätssektor entwickelt, die Teil des „Green Deal“ der EU ist.
Kampagne #mehrAchtung





Verkehrssicherheit:
Kritik an BMDV-Kampagne „#mehrAchtung“

Ende Mai wurden vom Bundesverkehrsministerium und vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) eine neue Kampagne vorgestellt, mit der ein positiver Beitrag zu mehr Aufmerksamkeit im Straßenverkehr sowie mehr Achtung und Respekt erreicht werden soll. Ziel ist eine Verbesserung des Verkehrsklimas und eine Senkung der Unfallzahlen. Viele Partner unterstützen die Kampagne, darunter allein zehn Verbände aus dem Bereich „Automobil“. Es fällt jedoch auf, dass aus dem Fahrradbereich ausschließlich der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) als Partner auftaucht.

Tatsächlich gab es von verschiedenen Fahrradverbänden deutliche Kritik an der Kampagne. Diese richtet sich nicht gegen die genannten Ziele, sondern gegen die Umsetzung und Slogans, mit denen die systematische Benachteiligung der Radfahrenden im Straßenverkehr verzerrt dargestellt werde. Auch gibt es Zweifel, dass diese Kampagne dazu geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Kritisiert wird beispielsweise das Plakatmotiv „Auto, Rad, Lkw. Wir sitzen alle im selben Boot“. Radfahrende, die neben vierspurigen Straßen auf schmalen Radwegen unterwegs sind, werden das kaum so empfinden, ebenso wenig wie solche auf Radfahrstreifen neben schweren Lkws oder in hohem Tempo vorbeifahrenden Autos.

„Schnelle Reformen statt leerer Appelle“ fordert beispielsweise der VCD. Michael Müller-Görnert sagt dazu: „Unfallursache ist häufig die hohe Geschwindigkeit von Autos. Um das zu ändern, brauchen wir keine freundliche Empfehlung, doch bitte vorsichtig zu fahren – wir brauchen Tempo 120 auf der Autobahn, Tempo 80 auf Landstraßen und Tempo 30 in der Stadt.“ Doch der Verkehrsminister verweigere sich dem Thema. Uwe Wöll vom VSF kritisiert, dass „eine Gleichberechtigung der Verkehrsmittel suggeriert (werde), die es in Wahrheit nicht gibt – wer zu Fuß oder auf dem Rad unterwegs ist, wird häufiger verletzt, ist aber viel seltener für schwere Unfälle verantwortlich.“ Für die Verbände stehen also strukturelle Verbesserungen der Radverkehrsinfrastruktur im Vordergrund. 
Zur Kampagne

ABS beim Fahrrad (Bosch e-Bike ABS)

Trends der Fahrradtechnik:
ABS beim Fahrrad - Sicherheit auf dem Vormarsch

Antiblockiersysteme sind beim Auto längst Standard. Doch seit Kurzem gibt es diese Technik auch für Fahrräder und E-Bikes. Noch sind sie nur bei hochpreisigen Modellen zu finden, aber es könnte in der nächsten Zeit durch den Wettbewerb eine Ausweitung auf die gehobene Mittelklasse erfolgen. Die Technik bringt für die meisten Radfahrenden ein Sicherheitsplus.

Wer früher mit Felgenbremen oder/und Rücktritt bremste, musste mit einem langen Bremsweg rechnen. Heute sind Fahrradbremsen so wirkungsvoll, dass eher dies eine Gefahr darstellt – besonders bei ungeübten Fahrer*innen oder/und Schreckbremsungen. Kopfüber-Stürze über den Lenker sind dabei nicht ausgeschlossen. ABS-Systeme sollen genau dies verhindern. Doch was leisten die Systeme in der Praxis?

Das Schweizer „Velomagazin“ hat die Produkte zweier Hersteller getestet. Ergebnis: Für Durchschnittsradler*innen ergibt sich durch ABS deutlich mehr Sicherheit, weil das Fahrrad sehr gut kontrollierbar bleibt. Das Sturzrisiko ist praktisch ausgeschlossen – das ist der Hauptvorteil. Zudem wird der Bremsweg verkürzt, wenn auch nicht so massiv, wie man erwarten könnte. Der positive Effekt ist auf losem Untergrund am größten, auf Asphalt ist er geringer.

Bei einem Extremvergleich mit einer Profi-Fahrerin war das Ergebnis etwas anders: Profis überbremsen auch in Schrecksituationen nicht und sind in der Lage, stets optimal und maximal ohne Kontrollverlust zu bremsen. Mit ABS verlängert sich der Bremsweg sogar leicht. Profis sind also noch besser als das ABS-System. Für Normalfahrer*innen gilt dies nicht. Deshalb wird ABS beim Fahrrad in den nächsten Jahren eine reelle Marktchance eingeräumt. Dies gilt auch für Cargobikes. Hier war der positive Effekt spurstabiler Vorderräder deutlich wahrnehmbar und messbar.
Mehr Infos zum Test
Nachhaltigkeit - Fair Rubber e.V.





Nachhaltigkeit:
Meilenstein ökologischer Fahrradreifen

Das Fahrrad ist ein „grünes Produkt“, aber seine Produktion muss ebenfalls nachhaltigen Kriterien genügen. Diese Erkenntnis setzt sich bei immer mehr Herstellern in der Branche durch. Auf der letzten Eurobike wurde daher von den Branchenverbänden gemeinsam ein „DNK-Leitfaden“ präsentiert, der die Fahrradindustrie dabei unterstützen soll, in den Nachhaltigkeitsprozess einzusteigen und Nachhaltigkeitsberichte nach dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) zu entwickeln.

Produkte nachhaltiger herzustellen ist mitunter extrem komplex. Dies gilt in besonderer Weise für die Fahrradbereifung. An Reifen werden die verschiedensten und teilweise widersprüchlichen Ansprüche gestellt, z.B. Leichtgewichtigkeit, Leichtlauf, Pannensicherheit, Langlebigkeit und gute Haftung auch bei Nässe. Zugleich müssen sie widerstandsfähig sein gegen Ozonbelastung, Sonnenstrahlung, hohe, aber auch frostige Temperaturen. Um das alles unter einen Hut zu bekommen steckt in dem Gummi von Fahrradreifen auch jede Menge Chemie. Eine sehr schwierige Ausgangslage für eine Kreislaufwirtschaft. Dennoch gibt es hier jetzt einen beachtlichen Fortschritt: So ist es der deutschen Firma Schwalbe aus Nordrhein-Westfalen gelungen, einen hochwertigen Fahrrad- und E-Bike-Reifen herzustellen („Green Marathon“), der zu 70% aus recycelten und nachwachsenden Materialien besteht.

Der Wulstkerndraht des „Green Marathon“ besteht aus recyceltem Stahl. Seit 2022 ist Schwalbe zudem in der Lage, die Gummibestandteile und die Gewebefasern zu recyceln. Aus diesem Prozess wird auch der Ruß gewonnen, der für die Abriebfestigkeit des Reifens notwendig ist. Der verwendete Naturkautschuk stammt aus fairem Handel, bei dem die Kleinbauern einen Preis erhalten, der deutlich über dem Weltmarktpreis liegt. Zur Gummimischung hinzu kommen noch recycelte Gummianteile. Insgesamt wird bei der Produktion gegenüber dem Vorgängermodell 34% CO2eQ eingespart.

Das Unternehmen Schwalbe ist schon lange Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit und bietet ein Rücknahmesystem für alte Schläuche und Fahrradreifen aller Marken über den Fahrradhandel an.

IAA Mobility 2023

IAA Mobility 2023:
Fahrradbranche übt Zurückhaltung

Mit dem Umzug von Frankfurt nach München 2021 gibt sich die frühere Automobilmesse IAA als Mobilitätsmesse. Auch in diesem Jahr will die IAA Mobility (5.-10. September) eine Plattform für alle Mobilitätsarten sein. Ein Blick ins Ausstellerverzeichnis bringt jedoch Ernüchterung: Die gewünschte Breite wird kaum erreicht. Die Teilnahme der Fahrradwirtschaft ist gering. Wasilis von Rauch, Geschäftsführer von Zukunft Fahrrad: „Für die Fahrradbranche ist der Blick über den Tellerrand wichtig. Wir würden eine breit angelegte Messe zur Transformation der Mobilität sehr begrüßen. Eine vom Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) gelenkte Messe kann diesem Anspruch jedoch nicht gerecht werden“. Es sind zwar klangvolle, aber in der Summe nur wenige Namen aus der Fahrradwelt, die im B2C-Bereich in der Münchner City präsent sind: Riese & Müller, Kettler Alu Rad, MyStromer, i:sy, Specialized, Pinion u.a.. Doch die Grenzen zwischen Automotive und E-Bike sind mittlerweile fließend: Bosch, Brose, Porsche u.a. sind in beiden Bereichen aktiv. Dasselbe gilt für diverse Start-Ups, Dienstleister und Sharing-Firmen. 2-, 3- und 4-rädrige Cargobikes für private und gewerbliche Nutzungen (Lieferbikes, Schwerlasträder) werden in München ebenfalls präsentiert werden.

Ein Leitthema der IAA Mobility lautet „Experience Connected Mobility“. Es geht also auch um Konnektivität und um die Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel. Der erfolgreiche Ansatz, mit den „Open Space“-B2C-Bereichen in der Münchner Innenstadt, Bürgerinnen und Bürger der Stadt direkt anzusprechen, wird fortgesetzt. Hier ist der Eintritt frei. Auf den Open Space Flächen präsentieren sich Aussteller, es gibt aber auch ein vielfältiges Bühnenprogramm mit Vorträgen und Diskussionen. Zwei „Blue Line“-Teststrecken verbinden Messegelände und Innenstadt, eine für emissionsfreie Kraftfahrzeuge und eine für Bike & Micromobilität. In der Halle A3 gibt es zudem einen „Cycling & Micromobility Parcour“.

Auf dem Messegelände selbst, wo der Schwerpunkt auf den B2B-Zielgruppen liegt, sind sieben Ausstellungshallen belegt. Die IAA Mobility verfolgt ein integriertes Konzept ohne räumliche Trennung von Kraftfahrzeugen und Fahrrad oder ÖPNV. Der „IAA-Summit“ verteilt sich auf drei Bühnen in den Hallen sowie zwei Dialogflächen für den direkten Austausch. Zu den rund 500 Speakern und Diskussionsteilnehmenden gehört die Geschäftsführerin des E-Bike Herstellers Riese & Müller, Dr. Sandra Wolf. Sie nimmt am 5. September zusammen mit Hildegard Müller (VDA), Carsten Spohr (CEO Lufthansa) und Richard Lutz (CEO Deutsche Bahn) an der Konferenz Eröffnung auf der Hauptbühne teil. Um 14 Uhr findet dort dann auch die offizielle IAA Mobility Eröffnung u.a. mit dem Bundeskanzler statt.
S-Pedelecs frei





Beispiel Tübingen macht Schule:
NRW gibt S-Pedelecs bessere Chancen

Das kann der Verkehrswende unter die Arme greifen: Künftig dürfen in Nordrhein-Westfahlen die örtlich zuständigen Straßenverkehrsbehörden darüber entscheiden, Radverkehrsanlagen mittels Zusatzzeichen „S-Pedelecs frei“ für schnelle Pedelecs freizugeben. In einem Erlass des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Verkehr (MUNV) gemäß Verwaltungsvorschrift zur StVO an die Bezirksregierungen, der dem IFW vorliegt, werden diese unter bestimmten Voraussetzungen dazu ermächtigt. Dabei handelt es sich stets um Einzelfallentscheidungen in Abwägung der besonderen Belange des Fußverkehrs und anderer Aspekte, wie Breite, Linienführung, Verkehrszusammensetzung, Verkehrsstärken und Geschwindigkeiten.

Durch den Erlass des MUNV ist es nun erstmals in einem Flächenland möglich, dass S-Pedelecs Radschnellwege, Radschnellverbindungen, Fahrradstraßen, Fahrradzonen und andere Radwege nutzen dürfen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Damit könnten sich S-Pedelecs zu Pendlerfahrzeugen für größere Entfernungen im Vergleich zu den 25er Pedelecs entwickeln und damit einen Beitrag zur Verkehrswende leisten. Noch haben S-Pedelecs allerdings mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. 

Hartnäckig hält sich in Medien und in Teilen der Bevölkerung die Vorstellung, dass S-Pedelecs stets mit 45 km/h unterwegs seien. So sprechen viele Zeitungen und der WDR von „E-Bikes, die 45 km/h fahren“, als wäre dies die Normalgeschwindigkeit dieser Fahrzeuge. Dabei sieht die Realität anders aus, denn es handelt sich ja lediglich um den maximalen Unterstützungsgrad des E-Motors. S-Pedelec-Fahrende wissen, wie anstrengend Geschwindigkeiten oberhalb von 30 km/h sind und wie unangenehm der Fahrtwind dann sehr schnell wird. 

Die ersten Reaktionen fallen unterschiedlich aus: ADFC und Fuss e.V. betonen eher die Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer*innen als die Chancen für die Verkehrswende. Die AGFS in NRW äußert sich differenziert. Es bleibt zu hoffen, dass zeitnah eine Versachlichung der Debatte eintritt und Praxiserfahrungen die Vorurteile in der öffentlichen Wahrnehmung ersetzen, damit dann auch bundesweit Regelungen für S-Pedelecs gefunden werden, die dieser Fahrzeuggattung gerecht werden. In Tübingen, wo seit Ende 2019 Radwege für schnelle Pedelecs freigegeben wurden, sind die Erfahrungen positiv und eine Häufung von Unfällen ist nicht zu verzeichnen.

Informationsdienst Fahrradwirtschaft exklusiv:

3 Fragen an ...

Ralf Kindermann, KINDERMANN Value Creation GmbH
Ralf Kindermann, Geschäftsführender Gesellschafter KINDERMANN Value Creation GmbH
IFW: Nach dem Fahrrad-Boom der Corona-Zeit sind die Zeiten für die Branche nicht nur hierzulande aktuell wieder schwieriger geworden. Einige, auch etablierte Unternehmen kämpfen zurzeit mit erheblichen Problemen. Sehen Sie dies als notwendige Konsolidierungsphase oder als eine generelle Trendwende, dass die Bäume nicht mehr in den Himmel wachsen?

RK: Es ist richtig, kurzfristig kämpfen nahezu alle Unternehmen unserer Branche mit Lagerüberhängen bei gedämpfter Nachfrage, was zu Liquiditätsengpässen führt, die es nun zu managen und überbrücken gilt. Ich denke diese Situation wird sich bis Ende 2024 auflösen. Mittel- bis langfristig sehen alle Expert*innen für die Fahrradbranche ein moderates, aber stetiges Wachstum von 3-4% jährlich voraus. Basis dafür ist die anhaltende Umstellung vom Fahrrad zum E-Bike (nur 10-12% des Fahrradbestands in Deutschland sind bisher E-Bikes). Zudem nimmt die Nutzung des Fahrrads/E-Bikes in der Gesellschaft weiter zu, was dann auch zu einer höheren Nachfrage nach Teilen, Zubehör, Bekleidung und Service führt und somit zu erhöhten Umsätzen in unserer Branche. Aber auch der Fahrrad-Tourismus wächst stetig und ist eine bedeutende Stütze für den Umsatz und die Beschäftigung in unserer Industrie.

In den letzten Jahren sind viele Player zum E-Bike gekommen, die ihren Schwerpunkt im Automotive-Bereich haben. Ist das ein positiver Entwicklungsschritt für die Branche oder sehen Sie hier auch Probleme? Wird sich der Anteil von Firmen aus dem Automotive-Bereich beim Fahrrad und E-Bike weiter erhöhen?

Ja, insbesondere bei den Komponentenlieferanten im E-Bike Bereich wollten es einige Bosch gleichtun und sind bisher mit unterschiedlichem Erfolg in unserer Branche tätig (Brose, Mahle, ZF, Valeo, etc.). Dasselbe geschieht im Komplett-Fahrrad-Bereich: So ist die niederländische PON-Gruppe durch Zukäufe von Marken wie Gazelle, Kalkhoff, Cervelo, Cannondale und GT mit rund 2,4 Mrd. Euro Umsatz 2022 zum größten Fahrradhersteller der Welt aufgestiegen. PON hat seine unternehmerischen Wurzeln als Generalvertrieb der Volkswagengruppe in den Niederlanden. 
Auch Porsche hat in der letzten Zeit mit einer buy & built Strategie Fahrradunternehmen wie Fazua, Greyp und Cyklaer an sich gebunden und arbeitet in zwei Joint-Ventures mit PON an der Entwicklung eines eigenen Antriebs für E-Bikes und an eigenen Porsche-E-Bikes. Da die meisten anderen Automobilhersteller bisher noch keine nennenswerten Aktivitäten in der Fahrradbranche entwickelt haben, rechne ich mit einer weiteren Zunahme des Engagements von Automotive Unternehmen in unserer Branche auf lange Sicht. Das tut, wenn sie es engagiert und nachhaltig machen, unserer Branche gut. Beide Industrien können voneinander lernen und so jeweils besser werden. Voraussetzung ist ein Umgang auf Augenhöhe und gegenseitiger Respekt für das jeweils Erreichte und nicht der erhobene Zeigefinger.

Die Fahrradbranche als Teil der Mobilitätsbranche ist nicht nur im Hinblick auf die Produkte, sondern auch in Bezug auf Nutzungs- und Vertriebskonzepte innovativ. In letzter Zeit sind einige ehemals viel gelobte und mit Innovationspreisen versehene Firmen in die Insolvenz gerutscht. Inwieweit sind die Probleme „Haus gemacht“ oder doch eher der allgemeinen Wirtschaftslage geschuldet?

Die Vielfalt der Nutzung- und Vertriebskonzepte nimmt weiter zu, Sharing, Rental, Leasing, etc. sind nur einige Beispiele und es kommen weitere neue z.B. „Mobilitätsbudget“ für Mitarbeitende hinzu. Bei den Unternehmen, die trotz Innovationspreisen in die Insolvenz gerutscht sind, handelt es sich um eine Entwicklung, die wir auch z.B. bei Software-Unternehmen im Silicon-Valley sehen, nämlich dass innovative Start-Up-Unternehmen keinen ausreichenden Zugang zu Kapital haben aufgrund Ihres negativen Ergebnis-Profils, sprich: Sie machen Verluste, was bei ganz jungen innovativen Start-Ups normal ist. Vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurden solche Unternehmen durch Venture-Capital-Investoren mit Geld versorgt. Aber vor dem Hintergrund der anhaltenden Inflation und gestiegenen Zinsen fällt diese Kapitalquelle fast vollständig aus. Man spricht hier von einem „dry-out“, also dem Fehlen von Kapital. Da ist es dann auch ganz normal, dass verlustmachende Start-Ups und Neueinsteiger in unserer Branche in Finanzierungsschwierigkeiten geraten. Somit sind die Probleme teils hausgemacht (zu hohe Kosten/Verluste der Start-Ups) und veränderte Investitionsströme an den Kapitalmärkten aufgrund der gestiegenen Zinsen kommen hinzu.

Kurzmeldungen

Gunnar Fehlau
Kopf des Monats
Er ist der Gründer, Inhaber und Geschäftsführer des Pressedienst Fahrrad (pd-f), der velonauten und von bootcamp.bike – und in der Fahrradbranche bekannt wie der sprichwörtliche „bunte Hund“. Nie um einen flotten Spruch verlegen, zugleich aber ein Mensch mit Tiefgang und ausgeprägtem Fachwissen: Gunnar Fehlau, 50 Jahre jung, ist seit Anfang Januar mit dem Rad unterwegs. Er nennt das „Workpacking“. Er übernachtet meist im Zelt oder bei Freunden, nimmt berufliche Termine wahr und macht eine tägliche Videokonferenz mit seinen Mitarbeitenden. Bis zum Ende 2023 soll seine Workpacking-Lebenserfahrung noch gehen und er scheint ganz glücklich dabei. Die Frage lautet also: Wie wird es sich anfühlen, im Dezember wieder „nach Hause“ (Göttingen) zu kommen?
Fahrrad-Kaufprämien in Österreich
Fahrrad-Kaufprämien in Österreich
Privatpersonen mit einem ÖPNV-Jahresabo, Unternehmen, Vereine und Gemeinden können sich in unserem Nachbarland über Zuschüsse freuen, wenn sie ein E-Bike, Lastenrad oder Faltrad im Fahrradhandel kaufen. 1.000 Euro erhalten Privatpersonen, Betriebe, Vereine und Gemeinden, wenn sie ein Lastenrad kaufen, 600 Euro Zuschuss gibt es für ein Faltrad. Dabei handelt es sich um eine staatliche Prämie (850 / 450 Euro) in Verbindung mit einem Zuschuss durch teilnehmende Händler in Höhe von jeweils 150 Euro.
Die Förderung in Österreich existiert bereits seit 2020, im März 2023 wurde sie auf Falträder ausgeweitet. Diese dürfen bestimmte Mindestmaße nicht überschreiten, damit sie kostenlos in der Bahn mitgenommen werden können. Einen Zuschuss pro Pedelec (250 + 150 Euro) gibt es allerdings nicht für Privatpersonen und ansonsten nur ab dem Kauf von mindestens fünf Stück. Ja, auch in unserem Nachbarland gibt es ein wenig Bürokratie …
Lastenrad r-m
Zahlen des Monats
„Was kostet ein durchschnittliches Fahrrad?“ lautet eine häufig gestellte Frage. Pauschale Antworten machen hier natürlich keinen Sinn, aber eine Fachhändlerumfrage des Branchenmagazins SAZbike zur Eurobike Messe ergab nun differenzierte Antworten: Kinderräder liegen bei einem Durchschnittspreis von 484 Euro, Cityräder bei 861 Euro, Trekking- und Reiseräder bei 1.482 Euro. An der Spitze liegen Rennräder mit 2.812 Euro. Fürs Hobby, für den Sport wird also am meisten Geld ausgegeben.
Bei den E-Bikes liegen Transporträder an der Spitze (5.479 Euro), gefolgt von E-Rennrädern (4.547 Euro) und E-Mountainbikes (4.159 Euro). Am unteren Ende befinden sich E-Cityräder mit 3.086 Euro.
Interessant auch: Bei unmotorisierten Rädern liegt die Hauptnachfrage im mittleren Preissegment. Bei den E-Bikes hingegen gibt es eine Tendenz der Verbraucher*innen zum Hochpreisigen.
Bild des Monats
Bild des Monats: „Verkehrswende? Nein danke!“ So oder ähnlich könnte man bei dieser Blüte denken. Man hofft vielleicht, es wäre Ironie, aber es ist leider doch Realität. Das Schild befindet sich in der Nähe einer Schule mit intensivem „Elterntaxi“-Kfz-Verkehr. Alles eine Frage der Prioritäten. 
Tatsächlich gibt es Indizien dafür, dass die Verkehrswende in Deutschland ins Stocken geraten ist: So werden 2024 deutlich weniger Bundesmittel für den Radverkehr zur Verfügung stehen als 2022 und 2023. Zugleich scheint der Senat von Berlin den Kulturkampf gegen das Fahrrad eröffnet zu haben. Die FDP in Hessen wirbt im Wahlkampf für ein „Leben ohne Lastenräder und Wärmepumpen“ und die IHK Bonn für mehr Parkplätze mit dem grünen Schild „Parkraumschutzgebiet“. Was ist da schief gelaufen?
Eine Analyse zum Kulturkampf um die Verkehrswende finden Sie hier

Termine

  • Bundeskanzler Olaf Scholz, Ministerpräsident Markus Söder und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter eröffnen am 5. September die IAA Mobility. Hier werden auch Fahrräder und E-Bikes präsentiert.

  • Hinweis: Das ursprünglich für den 5. und 6. September auf der IAA Mobility geplante World Cycling Forum wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Offensichtlich war der Widerstand aus der Fahrradindustrie erheblich, sich an eine Messe des VDA anzudocken. 

  • Berlin ist der Schauplatz der Veranstaltung „Zukunft Nahverkehr“ der DB. Vom 4.-9. September gibt es eine Ausstellung mit integrierter Konferenz. Dabei werden auch verschiedene Fahrradprojekte präsentiert. 

  • Vom 19.-20. September lädt der Radlogistikverband Deutschland zur 4. Nationalen Radlogistik Konferenz nach Darmstadt ein. Ergänzend gibt es einen Exkursionstag und eine Leistungsschau.

  • Die nächsten Sitzungswochen des Deutschen Bundestags finden vom 18.-22. und 25.-29. September statt. Die nächste Sitzung des Bundesrats ist am 29. September.
  • Der nächste Newsletter Fahrradwirtschaft Insight erscheint am 5. Oktober.

Team Fahrradwirtschaft Insight

Team Fahrradwirtschaft Insight
Herausgeber des Newsletters ist Albert Herresthal. Durch seine langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer des Verbund Service und Fahrrad (VSF e.V.) ist er mit den relevanten Köpfen aus Politik, Verwaltung und Fahrradwirtschaft bestens verbunden. Er ist für das Konzept und die inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich.

Auch Hendrikje Lučić (Mitte) verfügt über langjährige Erfahrung in der politischen Arbeit, so war sie Leiterin des VSF-Hauptstadtbüros. Seit 2021 verantwortet sie die Politische Interessenvertretung beim Bundesverband der Deutschen Sportartikel-Industrie (BSI). Sie ist für die inhaltliche und strategische Ausgestaltung des Newsletters mitverantwortlich.

Anne Kreidel ist Fundraiserin und hat lange im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit gearbeitet. Sie ist in Unternehmen, in Kultur- und Umweltorganisationen tätig, war u.a. bei Changing Cities. Im Team Fahrradwirtschaft Insight übernimmt sie die Umsetzung und den Versand des Newsletters.
Fotonachweise in der abgebildeten Reihenfolge: 1. CONEBI (Ausschnitt Logo), 2. #mehrAchtung Website, 3. Bosch eBike, 4. Fair Rubber e.V., 5. IAA Mobility Mediaportal, 6. Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, 7. KINDERMANN Value Creation GmbH, 8. Alexander Giebler / pd-f, 9. Matthias Patzuda / Unsplash, 10. r-m / pd-f, 11. unbekannt (aus sozialen Medien), 12. Teamfoto: Antonia Richter
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