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Liebe Leserin, lieber Leser,

wie störanfällig ist die Fahrradbranche im Hinblick auf stabile Lieferketten? Nach einer langen Phase zunehmender globaler Vernetzung wurde diese Frage 2021/2022 plötzlich ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Firmenschließungen und die Blockade der Seewege in China führten hier in Deutschland zu erheblichen Problemen und Engpässen in der Warenversorgung. „Wir müssen unabhängiger werden“ war das allgemeine Credo der hiesigen Fahrradwirtschaft. Was ist daraus geworden?

Es ist gut, die ökonomischen Abhängigkeiten einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Wie kleinteilig darf/soll/muss Produktion sein? Ist es gesund, wenn die Bestandteile von Fahrrädern zigtausende Kilometer durch die Welt geschippert werden, bevor sie dann hierzulande in ein Fahrrad eingebaut werden? Lange Transportwege belasten die Ökobilanz eines jeden Produkts. Ökonomisch betrachtet fielen die weiten Transporte jedoch kaum ins Gewicht – so entstand eine Struktur, die sich während der Pandemie rächte. Hat die Fahrradwirtschaft daraus gelernt?

Es lohnt sich, dieser Thematik einmal nachzuspüren. Einige Antworten finden Sie in unserem Experteninterview „4 Fragen an …". Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre unserer Oktober-Ausgabe von Fahrradwirtschaft Insight.

Herzliche Grüße

Ihr
unterschrift_ah
Albert Herresthal
Informationsdienst Fahrradwirtschaft
Die Themen dieser Ausgabe:
  1. Trends und Innovationen: Das "aufgeräumte" E-Bike
  2. Nachhaltigkeit: Mehrwegverpackungen für Fahrräder 
  3. Bundeshaushaltsplan 2024: Kritik der Fahrradwirtschaft an Budgetkürzungen
  4. Rückblick IAA Mobility: Weniger Fahrräder, aber mehr Dialog
  5. Marktüberblick: Großes Potenzial von Sharing-Bikes
  6. Unsere europäischen Nachbarn: Marktentwicklung in Frankreich
  7. IFW exklusiv: 4 Fragen an ... Jo Beckendorff
  8. Kurzmeldungen
  9. Termine
Mittelmotor von Pinion GmbH

Trends und Innovationen:
Das "aufgeräumte" E-Bike

Lange Zeit waren Fahrräder und E-Bikes ein Konglomerat von Anbauteilen. Ständig kamen neue Funktionen dazu, um den Komfort zu erhöhen – auf Kosten der Ästhetik. Seit einiger Zeit gibt es nun den Trend zur Schlichtheit und Übersichtlichkeit, beispielsweise durch die Verlegung von Bowdenzügen in den Rahmen. E-Motor und Schaltung blieben bisher separate Komponenten in der Regel auch von unterschiedlichen Herstellern. Doch jetzt kommt hier Bewegung auf. So wurde von der Firma Pinion in Baden-Württemberg eine Einheit aus Motor- und Schaltung entwickelt. Dabei handelt es sich um einen Mittelmotor mit einer elektronisch angesteuerten 9- oder 12-Gang Schaltung. Diese Entwicklung wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert. E-Motor und Getriebe werden in Deutschland hergestellt.

Mit der Entwicklung, die ab 2024 z.B. an E-Bikes von Flyer, Simplon und Kettler zu sehen sein wird, wirkt das Pedelec deutlich aufgeräumter. So entfällt die Schaltung am Hinterrad mit den entsprechenden Kabeln. Besonders wartungsarm wird das System mit einem Riemenantrieb statt der üblichen Kette. Lediglich alle 10.000 km wäre dann ein Ölwechsel fällig. Ein Vorteil gegenüber einer Kettenschaltung besteht auch darin, dass das Getriebe im Stand schaltbar ist, also z.B. vor einer Ampel. Das System besitzt zudem einen Automatik-Modus.

In der Anschaffung werden Pedelecs mit der neuen Motor-Schalt-Einheit nicht gerade günstig sein. Dafür sparen aber insbesondere Vielfahrer*innen später bei den (geringeren) Wartungskosten.

Mehr zum Thema Innovationen bei E-Bikes
Mehrwegverpackung Riese & Müller





Nachhaltigkeit:
Mehrwegverpackungen für Fahrräder

In vielen Bereichen bereits Standard, beim Fahrrad komplizierter: Der Transport von Fahrrädern und E-Bikes vom Hersteller/Importeur zum Fachhändler in Mehrwegverpackungen ist für die Branche noch Neuland. Zu empfindlich das Produkt, zu ausladend in den Maßen, zu verschlungen manche logistischen Wege. Die Nutzung von Einwegkartons für Transport und Verkauf von Fahrrädern ist eine Achillesferse der sonst ökologisch anspruchsvollen Fahrradwirtschaft. Die Umsetzung von ökologischen Alternativen gestaltete sich bisher aber schwierig. 

Mit der Mehrweg-„Bikebox“ aus 100% Polypropylen kommt Bewegung in die Logistik. Der Fahrrad- und E-Bike-Hersteller Riese & Müller aus Hessen setzt diese Systeme nun erstmals ein. Nach der aktuell laufenden Versuchsphase sollen bereits Anfang 2024 rund 60% der Verpackungen auf Mehrweg umgestellt sein. Mit dem neuen System soll im Handel das Abfallaufkommen um 905 Tonnen Kartonage pro Jahr eingespart werden – eine erhebliche Menge. 

Auch für den Versand von Kleinteilen sollen Mehrwegboxen eingesetzt werden, doch das Volumen bei den E-Bikes ist am größten. Die „Bikebox“ ist faltbar und soll bis zu 30mal eingesetzt werden können. Das Material, Polypropylen, ist robust, langlebig und gut zu recyceln. Es gilt als ökologisch vergleichsweise unproblematischer Kunststoff. Die Gesamt-CO2-Ersparnis beim Einsatz der Bikeboxen im Vergleich zu herkömmlichen Kartonagen beträgt rund 80%. Riese & Müller fertigt mit 900 Mitarbeitenden rund 110.000 Fahrräder und E-Bikes pro Jahr. 

Die Entwicklung von Mehrwegverpackungen folgt einer Brancheninitiative für mehr Nachhaltigkeit in der Fahrradwirtschaft (DNK-Leitfaden).

Budgetkürzungen

Bundeshaushaltsplan 2024:
Kritik der Fahrradwirtschaft an Budgetkürzungen

Dass es eine „Fahrradmilliarde“ an jährlichen Haushaltsmitteln des Bundes braucht, darüber herrscht nicht nur unter den Verbänden der Fahrradbranche schon seit langer Zeit Einigkeit. Auch die Verkehrsministerkonferenz der Länder verlangt vom Bund ein solches Volumen zur Co-Finanzierung einer guten Radverkehrsinfrastruktur. Umso größer war die Enttäuschung als bekannt wurde, dass die Bundesregierung für 2024 deutliche Kürzungen bei den Fördermitteln für den Radverkehr plant. Das Radverkehrsreferat im BMDV erklärt auf Anfrage des IFW, dass für das kommende Haushaltsjahr 425 Mio. Euro für den Radverkehr vorgesehen sind. Im Haushaltsjahr 2022 waren dies noch rund 750 Mio. Euro.

Branchenverbände und Vertreter*innen der Fahrradwirtschaft äußern sich kritisch, zumal ausgerechnet die finanzielle Unterstützung der Länder und Kommunen besonders reduziert wird. Wasilis von Rauch, Geschäftsführer des Verbands Zukunft Fahrrad weist darauf hin, dass die Kürzungen angesichts gestiegener Baukosten im Ergebnis nochmals stärker ins Gewicht fallen als es die nackten Zahlen ohnehin schon zeigen. Die ADFC-Bundesvorsitzende, Rebecca Peters, beanstandet, dass der Bund, „sich aus der Verantwortung zu stehlen“ scheint. Angela Kohls, Leiterin Verkehrspolitik beim ADFC wirft dem Bund Wortbruch vor und befürchtet, dass die Ziele des Nationalen Radverkehrsplans 2030 angesichts dieser Politik wohl erst 2070 umgesetzt werden könnten. Kritik an der zu geringen Fahrradförderung wurde außerdem am 25. September im Rahmen des Fachgesprächs der CDU/CSU-Fraktion „Fahrradland Deutschland – Eine bessere Infrastruktur für Stadt und Land“ laut, bei dem auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vertreten war.

Noch ist es allerdings möglich, Korrekturen im parlamentarischen Verfahren in den Verkehrshaushalt 2024 einzubringen. Schauplatz hierfür ist der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags. Am 28. September wurden dort die Beratungen dazu aufgenommen. Für den 16. November ist die abschließende „Bereinigungssitzung“ vorgesehen, bevor dann das Parlament – voraussichtlich in der Sitzungswoche 27. November bis 1. Dezember – entscheidet. Zu einer Zeit, in der die Folgen des Klimawandels immer sichtbarer werden und sich Folgekosten immer klarer abzeichnen, erscheint es unlogisch, jetzt ausgerechnet beim klimafreundlichen Radverkehr zu sparen.
IAA Mobility 2023





Rückblick IAA Mobility:
Weniger Fahrräder, aber mehr Dialog

Beim Automobil bleibt sich die Politik treu: Bundeskanzler Scholz, Ministerpräsident Söder, Bundesverkehrsminister Wissing – keiner fehlte auf der 6-tägigen IAA Mobility 2023 in München. Es gab auch Proteste, die sogar beim Rundgang des Kanzlers durch die Messehallen nicht verhindert werden konnten. Kritiker*innen kaufen es der vom Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA) veranstalteten IAA nicht ab, dass es hier ergebnisoffen um die Zukunft der Mobilität gehen soll. Sie sehen in der IAA eine reine Autoshow im „grünen Mäntelchen“.

Prominente Vertreter*innen der Fahrradbranche nahmen die Einladung zum Dialog dennoch selbstbewusst an. Dr. Sandra Wolf, CEO des E-Bike-Herstellers Riese & Müller diskutierte mit Manager*innen des VDA, der Lufthansa, der Deutschen Bahn zum Thema „Connected Mobility“. (Video) Wasilis von Rauch, CEO des Verbands Zukunft Fahrrad machte im Gespräch mit Verbandsvertretern in der Session „Mobility as an economic engine: bike, car, train“ deutlich, dass der Wettbewerb der Mobilitätsformen oftmals unter unfairen Rahmenbedingungen stattfindet. Tomi Viiala, Co-Chef des E-Bike-Herstellers Stromer präsentierte seine Vision der Mobilität im Rahmen der Conference auf der Blue Stage.

Laut VDA besuchten insgesamt 500.000 Menschen die Veranstaltung. In den Messehallen zeigte sich ein recht eindeutiges Bild: Unübersehbar dominierte die Automotive Branche. Die Fahrradpräsenz konzentrierte sich auf den sehr gut besuchten „Open Space“ Bereich der IAA Mobility, einer Fläche von 50.000qm in der Münchner Innenstadt. Dieser war für Passant*innen kostenlos zugänglich und sehr gut besucht. In der Hofgartenstraße boten elf Aussteller u.a. E-Bike Test-Möglichkeiten im Englischen Garten.

Im Vergleich mit der IAA Mobility vor zwei Jahren hat die Dominanz des Kfz-Bereichs weiter zugenommen, während die Anzahl der Aussteller aus der ÖPNV- oder Fahrradbranche zurückging. Der Zweirad Industrie Verband (ZIV) begründet dies damit, dass "die meisten Unternehmen die IAA nicht für das richtige Umfeld für ihre Produkte halten". Der Markenkern der IAA sei nach wie vor das Auto. 

Der Weg der IAA zu einer echten Mobilitätsmesse ist also noch sehr weit – wenn der VDA dieses Ziel überhaupt ernsthaft ansteuert. Mehr dazu

E-Scooter

Marktüberblick:
Großes Potenzial von Sharing-Bikes

Leihräder und E-Scooter bereichern das Mobilitätsangebot, besonders in den Städten. Oft ergänzen sie Bahn und Bus für die „letzte Meile“. Aktuell werden die Systeme immer professioneller – bleiben in der Regel jedoch auf öffentliche Zuschüsse angewiesen.

Nachdem viele Städte auf das Chaos herumliegender billiger Sharing-Bikes und E-Scooter mit Regulierungen reagiert haben, hat sich die öffentliche Debatte um Sharing-Angebote ein wenig beruhigt. Vielerorts wurde die Anzahl der Leihräder gedeckelt und es wurden strikte Parkzonen vorgeschrieben und damit mehr Ordnung geschaffen. In Paris wurden Leihsysteme für E-Scooter seit September gar komplett verboten, private bleiben jedoch erlaubt. 

Weltweit gibt es rund 20 Millionen Leihfahrräder, die meisten davon in chinesischen Metropolen, sowie in New York City. In Deutschland kann man sich in 62 Städten Fahrräder ausleihen. Europaweit wurden 2022 in 100 Städten rund 2,5 Mio. Fahrten registriert – eine Steigerung zum Vorjahr um ein Drittel.

Besonders für Pendler*innen sind Sharing-Bikes interessant. Laut dem europäischen Wirtschaftsverband CIE sollten die Stationen maximal 100 m entfernt zu ÖPNV-Stationen liegen. Zudem wird eine digitale Integration in die Apps des öffentlichen Nahverkehrs gefordert, wenn diese Systeme eine Alternative zum MIV darstellen sollen. Um diese Wirkung weiter zu verstärken, sollten Bikesharing-Angebote nicht nur in den Stadtzentren verfügbar sein, sondern auch in den Umlandgemeinden. Das wird für die Anbieter nicht kostendeckend zu realisieren sein, aber in der Regel werden Leihräder ohnehin öffentlich bzw. von ÖPNV-Unternehmen subventioniert, beim Anbieter Nextbike ist das weltweit bei 80% der Räder der Fall. Oftmals ist damit auch eine preisliche Vergünstigung für Stammkund*innen des ÖPNV verbunden. Nextbike (gehört zu TIER Mobility) hat weltweit 115.000 Mietfahrräder im Einsatz. Unter dem Markennamen TIER werden in 100 deutschen Städten 75.000 E-Scooter und 10.000 E-Bikes zum Ausleihen angeboten. Insgesamt ist das Unternehmen mit Sitz in Berlin in 21 Ländern in Europa und im Mittleren Osten aktiv.

Wettbewerber Bolt (aus Estland) ist in Deutschland in 65 Städten vor allem mit E-Scootern präsent. Der Versuch, an ausgewählten Standorten E-Bikes zum Verleih anzubieten, steckt noch in den Kinderschuhen. Die wirtschaftlichen Risiken sind bei vergleichsweise hochpreisigen E-Bikes deutlich höher als bei E-Scootern. Letztere sind auch wesentlich stärker nachgefragt, weil sie flexibler sind und bei der Ausleihe das Einstellen und Anpassen weitgehend entfällt.

Ausblick: Auf EU-Ebene sind zwei Rechtsverordnungen in Vorbereitung, die das multimodale Reisen erleichtern sollen. So sollen Reiseinformationsdienste beim Vergleich von Reiserouten und Verkehrsmittelalternativen helfen und den Kund*innen dazu Echtzeitdaten liefern. Eine neue EU-Verordnung definiert auch Leitlinien für die Förderung des Radfahrens und Zufußgehens in den Mitgliedsstaaten.
Fahrradmarkt in Frankreich





Unsere europäischen Nachbarn:
Marktentwicklung in Frankreich

Wer bei Frankreich zuerst an die „Tour de France“ denkt, liegt richtig, denn die Begeisterung für den Rennsport ist in allen Altersgruppen tief verwurzelt. Doch das Land ist im Wandel: Auch im Alltag wird – besonders in den Städten – mehr und mehr Rad gefahren, respektive E-Bike. Unterstützt wird dieser Trend massiv von der Politik (Zuschüsse zu Kauf und Reparatur) und durch die Umgestaltung der Infrastruktur, nicht nur in Paris. So befinden sich z.B. Bordeaux und Straßburg unter den Top-10 der fahrradfreundlichsten Städte Europas.

Mit dem „Plan de Velo 2023-2027“ investiert die Regierung in Paris zwei Mrd. Euro in die Förderung des Radverkehrs. Zusammen mit den lokalen Verwaltungen sollen insgesamt 6 Mrd. Euro in den Radverkehr fließen. Bis 2030 soll Frankreich über 100.000 km sichere Radwege verfügen, zuletzt waren es 57.000 km. Drei Hauptziele stehen für die Regierung im Vordergrund: Schüler*innen aufs Rad zu bringen, die Infrastruktur massiv auszubauen und die Entwicklung einer starken französischen Fahrradwirtschaft. Zur Stärkung der Fahrradindustrie wird es einen Investitionsfond geben.

Die aktuelle Entwicklung stärkt die französische Fahrradbranche massiv. So produzierten heimische Hersteller im vergangenen Jahr 854.000 Fahrräder, davon mehr als die Hälfte E-Bikes. Insgesamt wurden 2,6 Mio. Fahrräder und E-Bikes verkauft, die E-Bike-Quote an den Neuverkäufen ist höher als in Deutschland. Der Umsatz der Industrie einschließlich Fahrradteilen und Zubehör lag bei 3,6 Mrd. Euro – eine Steigerung des Umsatzes um 52% in vier Jahren. Anders als in Deutschland haben Großvertreiber wie Décathlon und Intersport in Frankreich einen großen Marktanteil. Sehr stark entwickelt sich aktuell das Cargo-Segment, vor allem für Familien und für die gewerbliche Nutzung. Es gibt rund 40 einheimische Hersteller.

Einen nochmaligen Wachstumsschub erwarten Experten in Frankreich vom Leasingmodell, das dort bisher noch nicht so weit entwickelt ist wie in Deutschland, das Potenzial ist enorm. Bikesharing-Angebote in den Städten wachsen weiter und werden zunehmend durch E-Bikes ergänzt. So verfügt der Anbieter Velib im Raum Paris über 19.000 Fahrräder, davon 7.500 E-Bikes, die auch per Abo angeboten werden.

Eine Besonderheit des französischen Marktes ist die große Verbreitung von privaten E-Scootern. 2021 wurden 900.000 davon verkauft. Nachdem E-Scooter durch diverse Verleiher in den Städten große Beliebtheit bei den Nutzer*innen erreicht hatten, geht der Trend nun zum privaten Kauf.

Ist Frankreichs Förderung ein Vorbild für Deutschland? | Mehr zum Plan de Velo (Website in französischer Sprache)

Informationsdienst Fahrradwirtschaft exklusiv:

4 Fragen an ...

Jo Beckendorff
Jo Beckendorff, selbständiger Fachjournalist in der Fahrradbranche mit bester internationaler Vernetzung, lebt in München und arbeitet zwei Monate im Jahr von Japan aus
IFW: Wenn man weltweit an die Fahrradwirtschaft denkt: Wo spielt die Musik? Und was ist das Spezifische am Deutschen und Europäischen Markt?

JB: Die meisten Räder gibt es weltweit in China, gefolgt von Indien. China steht auch für 58% der gesamten Weltproduktion, die bei etwa 130 Mio. Stück pro Jahr liegen soll. Hier sprechen wir allerdings auch von Fahrrädern, die komplett anders und deutlich einfacher sind als das, was wir in Deutschland kennen. 

Was den Absatz angeht – vor allem das hochpreisige Segment E-Bike/Pedelec – liegen sicherlich Europa und Nordamerika vorn, wobei China hier gerade aufholt. Die Leute dort haben nach langen Lockdowns der Corona-Zeit das hochwertige Rennrad für sich als Freizeit- und Sportprodukt entdeckt. 

Hierzulande sind im Hinblick auf den Umsatz die E-Bikes das Maß der Dinge. Dieser Boom dehnt sich in benachbarte EU-Länder sowie allmählich auch Richtung Nordamerika aus. Außerdem haben neue Nischen wie zum Beispiel das aus den USA kommende Gravelbike dem Thema Rennrad neues Leben eingehaucht. Ein weiteres Boom-Thema sind sicherlich (E-)Cargobikes. Denen wird eine große urbane Zukunft vorausgesagt.

IFW: Die Forderung nach resilienten Lieferketten war eine wichtige Erkenntnis in der Corona-Zeit. Was ist in Deutschland daraus geworden? Wäre die Fahrradbranche heutzutage besser aufgestellt bzw. arbeitet sie konkret an Veränderungen?

JB: Eine stärkere Lokalisierung hat sicherlich eingesetzt – und das nicht nur in Deutschland. Während der Pandemie wurden die internationalen Lieferketten ordentlich durchgewirbelt. Im Zuge der dann einsetzten »Localization« sprachen Insider bereits von Deglobalisierung – was übertrieben war. Nach der Pandemie hieß es dann nämlich schnell wieder »back to normal«. Sich international von der derzeitigen Abhängigkeit aus China zu lösen, ist ein sehr langer Weg. 

2020 kamen 78 % der EU-Fahrradimporte aus sieben Ländern. Sechs dieser sieben Länder sind in Fernost zu Hause. 17 % dieser EU-Importe kamen aus China (Kambodscha 24 %, Taiwan 11 %. [Quelle]

Aktuell gibt es Bestrebungen, einen Teil der Asien-Produktion nach Osteuropa und Portugal zu verlagern. Hier wird unter anderem auch aus Nachhaltigkeits-Gründen auf eine marktnahe Produktion der kurzen Wege gesetzt. Damit nimmt auch die hiesige Fertigungstiefe zu, was positiv zu bewerten ist. 
Nochmals schwieriger dürfte es aber sein, bei Fahrradteilen von der gut aufgestellten »Made in China«-Produktion loszukommen - das ist meiner Meinung nach nicht möglich. In welchem Bereich auch immer: aus heutiger Sicht ist eine Wirtschaft ohne China undenkbar.
IFW: Die bisherigen Lieferketten haben sich aus ökonomischen Gründen heraus entwickelt. In wie weit wären Veränderungen hier überhaupt wirtschaftlich angesichts einer doch recht geringen Eintrittswahrscheinlichkeit? Gibt es weitere Aspekte, die für ein Überdenken der Lieferketten sprechen? 

JB: Es sind nicht nur die Drohgebärden Chinas gegenüber Taiwan, die die Welt verschrecken. Weltpolitisch geht gerade eine Epoche zu Ende. Bisher bestimmte eine westliche Minderheit die Spielregeln der Welt. Der Westen (zuerst Europa – Stichwort Kolonialismus -, dann die USA) hat darüber entschieden, wer wo was zu sagen hat. 

Die wachsenden internationalen Ordnungsansprüche der jungen Weltmacht China und das in diesem Zusammenhang zunehmend robuste Auftreten fordert nicht nur die globale Vormachtstellung der USA und der gesamten westlichen Welt heraus, sondern auch Chinas Nachbarn. 

Das Reich der Mitte beansprucht zum Beispiel nahezu das gesamte Südchinesische Meer inklusive der dort vermuteten Rohstofflager für sich. Alle Ansprüche beinhalten ein aggressives und zunehmend auch militärisches Auftreten, das für immer mehr Misstrauen sorgt. Wie auch immer: Ich halte es derzeit für unwahrscheinlich, dass sich die globale Weltwirtschaft entflechten lässt.

IFW: Die Globalisierung der Wirtschaft hat viele Aspekte. Die Akteure haben mit Geschäftspartner*innen aus „fremden Ländern“ mit ganz anderen Kulturen und Verhaltensnormen zu tun. In welcher Weise trägt das zu einem besseren Verständnis zwischen den Völkern bei?

JB: Lange galt die Formel, dass die Globalisierung der Wirtschaft auch mit einer Auseinandersetzung anderer Kulturen und dem damit einsetzenden Verständnis oder der Akzeptanz für die »Andersheit« der letztendliche Schlüssel für Frieden ist. Das hat auch lange funktioniert. 

Dieses Mantra wurde durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erschüttert. »America First« & Co tragen ebenfalls dazu bei, sich eher abzugrenzen als aufeinander zuzugehen. 

Aber noch einmal: die Globalisierung ist so weit fortgeschritten, dass sich das Rad nicht mehr zurückdrehen lässt. Daher spreche ich lieber von einem aktuellen Trend zur stärkeren Lokalisierung als von einer Deglobalisierung.

Kurzmeldungen

Dr. Sandra Wolf
Kopf des Monats
Es war ein Novum auf der IAA Mobility 2023, dass bei der Konferenzeröffnung der Messe auf der Hauptbühne auch eine Persönlichkeit aus der Fahrradbranche sprechen konnte. Dr. Sandra Wolf hat im Gespräch mit den Spitzen von VDA, Deutscher Bahn und Lufthansa die Bedeutung von Fahrrädern und E-Bikes hervorgehoben. Sie machte deutlich, dass viele Menschen ihren Alltag bereits klimafreundlich mit dem Fahrrad realisieren, sprach aber auch die bestehenden Defizite bei der Infrastruktur an und kritisierte die geplanten Kürzungen für den Fahrradbereich im Etat 2024 des Bundesverkehrsministeriums.
E-Bike
Gebrauchte E-Bikes
Gebrauchte E-Bikes können für Verbraucher eine sinnvolle und nachhaltige Alternative zum Neukauf sein. Die Verbraucherzentrale Bundesverband hat zehn Online-Plattformen für generalüberholte Pedelecs genauer unter die Lupe genommen – und dabei „keine gravierenden Mängel“ gefunden. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag auf der Transparenz der Webseiten und auf der Vollständigkeit der Angaben. Technische Untersuchungen wurden nicht vorgenommen. Grundsätzlich fordert die Verbraucherzentrale E-Bikes mitunter die EU-Ökodesign-Richtlinie zu fassen, damit u.a. eine langfristige Ersatzteilversorgung für gebrauchte Pedelecs sichergestellt ist. Mehr
E-Bike laden
Zahl des Monats
24 Cent kostet das komplette Laden eines vollständig entladenen 500W-Pedelec-Akkus, der dann – je nach Fahrweise, Unterstützungsgrad und Topografie – eine Reichweite von bis zu 120 km hat. Das hat die Zeitschrift Ökotest ermittelt. Berechnungsgrundlage ist ein Strompreis von 40 Cent pro kWh. Berücksichtigt wurden hierbei bereits die unvermeidlichen Wärmeverluste, die beim Ladevorgang entstehen. Damit ist das E-Bike unter den motorisierten Fahrzeugen eines der preisgünstigsten Verkehrsmittel überhaupt.
Bild des Monats
Bild des Monats: Nein, das ist eindeutig Kunst und keine Kritik am Automobil. Diese „Knutschkugel“ findet sich im Pon-Hauptquartier in Amsterdam. Da die Pon-Gruppe geschäftlich eng mit der Automobilindustrie und mit der Volkswagen-Gruppe verknüpft ist, besteht hier ohnehin kein ernst zu nehmender Verdacht…

Termine

  • Die Fahrradkulturmesse für individuelle und handgefertigte Fahrräder „Bespoked“ findet in Dresden vom 13.-15. Oktober statt. Ursprünglich stammt diese Veranstaltung aus London. 

  • Vom 7.-9. November findet in Darmstadt das internationale „Battery Experts Forum 2023“ statt. Dabei handelt es sich um eine Fachkonferenz mit angegliederter Ausstellung.

  • Die Bundeshauptversammlung des ADFC ist das höchste Entscheidungsgremium des Verbands. Auf der nächsten BHV am 11. und 12. November in Berlin wird auch ein neuer Bundesvorstand des Verbands gewählt. 

  • Die nächsten Sitzungswochen des Deutschen Bundestags finden vom 9.-13. und 16.-20. Oktober sowie vom 6.-10. November statt. Die nächste Sitzung des Bundesrats ist am 20. Oktober.
  • Der nächste Newsletter Fahrradwirtschaft Insight erscheint am 7. November.

Team Fahrradwirtschaft Insight

Team Fahrradwirtschaft Insight
Herausgeber des Newsletters ist Albert Herresthal. Durch seine langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer des Verbund Service und Fahrrad (VSF e.V.) ist er mit den relevanten Köpfen aus Politik, Verwaltung und Fahrradwirtschaft bestens verbunden. Er ist für das Konzept und die inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich.

Auch Hendrikje Lučić (links) verfügt über langjährige Erfahrung in der politischen Arbeit. Seit 2021 verantwortet sie die Politische Interessenvertretung beim Bundesverband der Deutschen Sportartikel-Industrie (BSI). Sie ist für die inhaltliche und strategische Ausgestaltung des Newsletters mitverantwortlich.

Anne Kreidel ist Fundraiserin und hat lange im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit gearbeitet. Sie ist in Unternehmen, in Fahrrad- und Kulturorganisationen tätig. Im Team Fahrradwirtschaft Insight übernimmt sie die Umsetzung und den Versand des Newsletters.
Fotonachweise in der abgebildeten Reihenfolge: 1. Pinion GmbH, 2. Riese & Müller, 3. Pexels / Pixabay, 4. IFW / Herresthal, 5. Unsplash / Marcel Strauß, 6. Unsplash / Eddie Junior, 7. Jo Beckendorff, 8. Riese & Müller, 9. pd-f / Flyer Bikes, 10. Pixabay / Paul Henri Degrande, 11. IFW / Herresthal, 12. Teamfoto: Antonia Richter
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