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Liebe Leserin, lieber Leser,

„Was wäre, wenn?“ Solche Gedankenspiele können mitunter ganz vergnüglich sein. Man denkt sich etwas Fiktives aus – und spielt es dann mal spaßeshalber durch. Ob die Annahme realistisch ist oder ein Hirngespinst, ist dabei egal. Eben nur ein Gedankenspiel.

Wesentlich ernster geht es in der Wirtschaft zu. Hier ist die strategische Szenarioentwicklung für das Risikomanagement und als Frühwarnsystem zwingend notwendig. Und in der Politik auch.
Angesichts von bereits vier „Jahrhundert-Hochwassern“ in diesem Jahr, die der Bundeskanzler in Gummistiefeln besuchen musste, brauchen wir beim Thema Klimaschutz längst wesentlich mehr als Gedankenspiele. Leider geht uns als Gesellschaft gerade offenbar die Zuversicht verloren, dass effektives Handeln politisch noch durchgesetzt werden kann. Sogar das bereits beschlossene Verbrenner-Aus bis 2035 wird von einigen Parteien in Deutschland wieder infrage gestellt. Verkehrte Welt?

Derartige politische Spielchen können wir uns allerdings nicht mehr leisten. Die Situation erfordert jetzt mutiges Anpacken, das Umsetzen des Notwendigen, um die bitterernsten Folgen der sich zuspitzenden Klimakrise noch abmildern zu können. Bezogen auf den Verkehrsbereich hat eine Potenzial-Studie des ADFC, die das Fraunhofer Institut durchführte, nun sehr bemerkenswerte Zahlen geliefert: Bis 2035 ist eine Verdreifachung des Radverkehrsanteils möglich, wenn die Rahmenbedingungen entsprechend verbessert würden. Damit ließe sich der CO2-Ausstoß des Verkehrsbereichs um 1/3 senken, von 57 Mio. Tonnen auf 38 Mio. Tonnen. 

Das wäre mal geklotzt statt gekleckert! Und das ist nach der Studie absolut realistisch, also weit mehr als nur Gedankenspiel. Grund genug, den Fahrradverkehr in jeder Hinsicht zu fördern und die Infrastruktur zügiger und massiv auszubauen. Wie die TÜV-Studie zeigt, von der wir in diesem Newsletter berichten, wünschen sich das viele Menschen und sind bereit mitzumachen. Worauf warten wir?

Ihr
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Albert Herresthal
Informationsdienst Fahrradwirtschaft
Die Themen dieser Ausgabe:
  1. Leitmesse der Fahrradwirtschaft: Eurobike lockt nach Frankfurt
  2. Länderreport NRW: Fahrradbranche wirtschaftlich bedeutend
  3. Nachhaltigkeit: Auf dem Weg zu einem reduzierten ökologischen Fußabdruck
  4. Fahrradwirtschaft: Stimmung hellt sich weiter auf
  5. TÜV-Studie: Aufteilung des Verkehrsraums scheint ungerecht
  6. Einordnung/Kommentar: Reform des Straßenverkehrsgesetzes
  7. IFW exklusiv: 4 Fragen an ... Christine Fuchs
  8. Kurzmeldungen
  9. Termine
Eurobike Frankfurt

Leitmesse der Fahrradwirtschaft:
Eurobike lockt nach Frankfurt

Vom 3. bis 7. Juli findet die 32. Eurobike-Messe zum dritten Mal am neuen Standort Frankfurt statt. Die ersten drei Messetage sind dem Fachpublikum und Besucher*innen aus dem politischen Umfeld vorbehalten. Es gibt mehr als 100 Präsentationen, Vorträge, Workshops und Talks auf verschiedenen Bühnen in und außerhalb des Messegeschehens. Am dann folgenden Wochenende ist die Eurobike für jeden geöffnet mit Aktionen, auch im Herzen der Stadt Frankfurt.

Bereits am 2. Juli macht die „Leaders´ Night“ den Auftakt, ein Event für Aussteller und Branchenakteure. Zur feierlichen Eröffnung am 3. Juli sprechen u.a. der stellvertretende hessische Ministerpräsident und Wirtschafts- und Verkehrsminister, Kaweh Mansoori, sowie der Frankfurter Oberbürgermeister, Mike Josef. Beide sind – wie auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing – Schirmherren der Eurobike 2024. Der Bundesverkehrsminister lässt sich allerdings durch Staatssekretär Höppner vertreten. Das BMDV ist auch als Aussteller dabei und der Radverkehrsbeauftragte, Andreas Marquardt, wird u.a. auf dem Verbändeabend sprechen. 

Acht Messehallen und eine große Freifläche – zusammen rund 150.000 qm bilden das Areal der Eurobike 2024. Es werden mehr als 1.800 Aussteller aus über 60 Nationen und mehr als 35.000 Fachbesucher*innen erwartet. Die Produktschau geht dabei über klassische Fahrräder und E-Bikes weit hinaus, denn die Eurobike versteht sich auch als Messe für die gesamte Bandbreite der Ecomobilität. Wichtige Themen auf der Eurobike sind auch Fragen der Zukunft der Mobilität und die weitere Entwicklung der Fahrradindustrie und des Fachhandels. Im „Career Center“ werden die vielfältigen Fahrradberufe präsentiert, denn es fehlt der Branche nach wie vor an Fachkräften. Darüber hinaus bietet die Eurobike 2024 eine Reihe von Konferenzen. Dazu gehören u.a. der Industry & Start-Up Day, die Mobility Convention, der Ecomobility Talk, die Cargo-Academy und das Bike Travel Forum.
 
Es sieht ganz danach aus, dass die Eurobike nach 30 Jahren am Standort Friedrichshafen mit ihrem Umzug 2022 nach Frankfurt, eine kluge Entscheidung getroffen hat. Große Messen haben es heutzutage grundsätzlich schwer, aber die Eurobike scheint mit ihrem Vierklang aus Produktpräsentation, Konferenzen/Workshops, sozialem Treffpunkt mit Events und dem Bike-Festival für die Öffentlichkeit eine tragfähige Mischung für die Zukunft entwickelt zu haben.
Branchenbericht zur Fahrradwirtschaft in NRW





Länderreport NRW:
Fahrradbranche wirtschaftlich bedeutend

Auch in Politik und Gesellschaft hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Fahrradwirtschaft für Beschäftigung und Wertschöpfung in Deutschland von erheblicher Bedeutung ist. Dazu gibt es inzwischen handfeste Zahlen für Gesamtdeutschland, aber auch für das Land Baden-Württemberg. Nun hat auch das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr in Nordrhein-Westfalen einen „Branchenbericht zur Fahrradwirtschaft in NRW“ vorgelegt, den das Kompetenznetzwerk Umweltwirtschaft NRW erstellt hat.  

In dem Bericht wird festgestellt, dass sich die Fahrradwirtschaft in Nordrhein-Westfalen deutlich im Aufwind befindet. Die Branche konnte im Jahr 2022 rund 1,9 Mrd. Euro an Wirtschaftsleistung erbringen. Gemessen an der Bruttowertschöpfung ist die Wirtschaftsleistung im Zeitraum von 2012 bis 2022 um 3,2% pro Jahr gewachsen. Auch die Zahl der Erwerbstätigen in der Branche hat sich im Zeitraum deutlich erhöht – von 42.600 auf 50.700 Beschäftigte, eine Steigerung von 1,8% pro Jahr. Die meisten Erwerbstätigen arbeiten im Bereich des Fahrradtourismus (27.100), gefolgt von 12.400 Beschäftigten im Handel und 6.400 im Dienstleistungssektor, zu dem u.a. Kurierdienste gehören.
In der Studie zählen zur Fahrradwirtschaft alle Unternehmen, Verbände, Institutionen und Personen, die sich überwiegend mit der Entwicklung, Herstellung, Vermarktung und Instandhaltung von Fahrrädern, Fahrradkomponenten, -bekleidung und -zubehör, fahrradbezogenen Dienstleistungen oder fahrradtouristischen Produkten beschäftigen bzw. deren Umsätze in unmittelbarem Zusammenhang mit der Radverkehrsinfrastruktur stehen. Mit 682 Mio. Euro ist der Handel der wertschöpfungsstärkste Marktbereich der Fahrradwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Der Anteil beträgt etwa 36 Prozent. Rund 460 Mio. Euro (24,3%) erwirtschaftet das Marktsegment des Fahrradtourismus und weitere 349 Mio. Euro (18,4%) werden durch Dienstleistungen erbracht. Auf die Herstellung von Fahrrädern entfallen 283 Mio. Euro (14,9%) und auf die Infrastruktur für den Radverkehr 121 Mio. Euro (6,4%).
In NRW gibt es etliche bekannte Marken-Hersteller, z.B. Velo de Ville und Gudereit (Fahrräder und E-Bikes), ABUS (Schlösser, Helme), Busch & Müller (Beleuchtung), Ergotec (ergonomische Komponenten), Schwalbe (Bereifungen), SKS und Hebie (Zubehör).
Schwalbe Green Marathon

Nachhaltigkeit:
Auf dem Weg zu einem reduzierten ökologischen Fußabdruck

Mehr Nachhaltigkeit lässt sich nicht nur durch „neue Technologien“ erreichen, sondern ganz wesentlich auch durch einen anderen Umgang mit Produkten. So gehört z.B. die Nutzungsdauer und auch der „Second Use“ von Produkten zu den bedeutenden Stellschrauben. Auf diesem Feld sind Hersteller von Neuware normalerweise nicht aktiv, aber es gibt hier Vorreiter: 
Der süddeutsche Hersteller von Outdoor-Bekleidung und Fahrradtaschen Vaude bietet für gebrauchte Produkte seit Kurzem eine Online-Plattform an. Dabei handelt es sich um qualitätsgeprüfte Rückläufer. Ab 2025 sollen auch gebrauchte Vaude-Produkte von Privatpersonen über die Plattform angekauft werden können. Allein die Verdopplung der Nutzungsdauer von Bekleidung von einem Jahr auf zwei Jahre würde die CO2-Emissionen um 24 Prozent reduzieren. (weitere Infos)

Ein weiterer interessanter Ansatz kommt vom E-Bike-Antriebshersteller Brose. Dieser hat ein Remanufacturing-Programm gestartet. Bei diesem werden Teile aus Antrieben verwendet, die vor Ablauf der Gewährleistung reklamiert wurden. Techniker prüfen und reinigen die Komponenten, vervollständigen sie mit Neuteilen und fügen sie zu einem wiederaufbereiteten Antrieb zusammen. Durch die Wiederverwendung von Bauteilen wird der E-Antrieb deutlich preisgünstiger. Dennoch sollen sie Neuprodukten qualitativ in nichts nachstehen, was Brose mit einer zweijährigen Gewährleistung unterstreicht. Durch die Wiederaufbereitung werden im Vergleich zur Produktion mit Neuteilen nach Angaben des Herstellers pro Antrieb rund 50 Prozent CO2-Emissionen eingespart. (weitere Infos)

Auch bei der Lebensdauer und Laufleistung von Fahrradreifen hat es enorme Fortschritte gegeben. Dieser Aspekt ist ökologisch besonders wirksam, weil die Produktion von Bereifungen sehr komplex ist. Fahrradmäntel bestehen aus vielen unterschiedlichen Substanzen, die das Recycling schwer machen. Bei der Laufleistung von Qualitätsreifen hat es in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte um den Faktor 4-5 gegeben. Die Nutzung von Recyclingmaterial ist eine relativ neue Entwicklung. Bei einigen Reifen der Firma Schwalbe beträgt der Anteil von Recyclingmaterial stolze 80% (Stahlkern, Gummi, Gewebe). Bei 70% des gesamten Sortiments wird auch der Ruß vollständig durch Recyclat ersetzt. Statt des üblichen Reifengewebes aus neuem Nylon wird Recyclingmaterial genutzt. (Green Marathon) Das macht auch der Hersteller Maxxis. Kieselsäure aus Reisschalen anstelle von Kohlenstoff nutzt der chinesische Hersteller CST. Reifenhersteller Continental gewann mit einem Fahrradreifen-Serienmodell den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2021, weil der verwendete Kautschuk aus in Deutschland wachsendem und verarbeitetem Löwenzahn hergestellt wurde.

Das Konsumklima erholt sich. (GfK)





Fahrradwirtschaft:
Stimmung hellt sich weiter auf

Nachdem sich der Fahrradboom der Corona-Jahre deutlich abgeflacht hatte, stolperte die Branche von einer Mega-Herausforderung in die nächste: Lieferengpässe, Lagerdruck, Kaufzurückhaltung, Fachkräftemangel sowieso. Inzwischen befinden sich die wirtschaftlichen Aussichten des Handels insgesamt wieder auf einem soliden Niveau. Das HDE-Konsumbarometer zeigt für den Monat Juni einen Index von 98,87 Punkten (bei einem Normalwert von 100 Punkten). Das entspricht dem fünften Anstieg in Folge und den besten Wert seit August 2021. Ebenso die Anschaffungsneigung (89,3) und die Konjunkturerwartung (86,5) – sie zeigen zum wiederholten Mal nach oben, auch wenn diese Werte noch nicht berauschend sind.

Positive Tendenzen zeigt zudem die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in ihrer letzten Erhebung: Die Einkommenserwartungen der Deutschen steigen moderat und die Anschaffungsneigung wächst wieder. Entsprechend nimmt die Sparneigung spürbar ab – ein deutlicher Indikator für wachsenden Optimismus. Insgesamt verbessert sich das Konsumklima zum vierten Mal in Folge. Der Indikator steigt um 3,1 auf -20,9 Punkte in der Prognose für Juni im Vergleich zum Vormonat.

Für die Fahrradwirtschaft liefert das Branchenbarometer des T3-Instituts und des Velobiz-Magazins spezifische Daten. Auch wenn das zuletzt eine ausgeprägte Schlecht-Wetter-Phase in vielen Regionen Deutschlands der Fahrradkonjunktur einen temporären Dämpfer versetzt hat, zeigt das Branchenbarometer über die letzten Monate hinweg eine von Stabilität geprägte Entwicklung. Das aktuelle Geschäftsklima der Unternehmen sowie die Aussichten für die kommenden sechs Monate liegen auf einer Skala von -100 bis +100 mit jeweils +28 im positiven Bereich. Zugleich nimmt der Lagerdruck langsam ab: Hatten im März noch 89% zu viel Ware am Lager, so waren es im Mai zuletzt noch 75%.

Auch Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV), äußerte sich im Manager-Magazin optimistisch über die Zukunftsaussichten: „Wir blicken mit großer Zuversicht auf die kommenden Jahre, denn die Kosument*innenschaft wünscht sich unsere hervorragenden Produkte und die Politik wird diesem Wunsch bald gerechter werden als das heute der Fall ist. Für die meisten Wege ist das Fahrrad das eindeutig beste Verkehrsmittel, daher machen wir uns um das Wachstum im Markt mittelfristig überhaupt keine Sorgen“. Auch der Fachhandelsverband VSF erwartet für seine Mitglieder in der laufenden Saison „ein leichtes Umsatzplus“.

TÜV Mobility Studie

TÜV-Studie:

Aufteilung des Verkehrsraums scheint ungerecht

Anfang des Monats stellte der TÜV-Verband seine repräsentative „Mobility Studie 2024“ der Öffentlichkeit vor. Danach hält eine Mehrheit von 58% die Aufteilung des Verkehrsraums in Deutschland für ungerecht. 9% sind in dieser Frage unentschieden. Im Detail halten die Befragten zu 51% Radfahrende für besonders benachteiligt und 41% Zufußgehende. 

Radfahrende und E-Scooter-Fahrende werden im Verkehr als (sehr) gefährdet wahrgenommen (88 bzw. 87%), bei Zufußgehenden vertreten 77% diese Ansicht. Nur Fahrer*innen motorisierter Zweiräder (82%) werden als ähnlich gefährdet angesehen. Das Autofahren halten 40% für „eher gefährlich“ und 7% für „sehr gefährlich“.

Welche Schlussfolgerungen sind aus der Studie zu ziehen? Zunächst einmal sind 69% der Ansicht, dass die Klimakrise ein grundsätzliches Umdenken bei der Mobilität erfordert. Dazu wollen 90% einen Ausbau des ÖPNV, je 88% fordern eine fahrradfreundliche Infrastruktur sowie verkehrsberuhigte Stadtviertel. 72% halten eine fahrradfreundliche Verkehrsplanung und auch das Konzept der 15-Minuten-Stadt, bei dem alle wichtigen Ziele in einer viertel Stunde auch ohne Auto erreichbar sind, für zielführend. 61% wünschen sich eine stärkere Förderung der Elektromobilität.

Doch auch der Abbau von Privilegien bzw. restriktive Maßnahmen haben eine klare Mehrheit. So wollen 62% das Dienstwagenprivileg abgeschafft wissen und 61% Tempo 130 auf Autobahnen als Maximalgeschwindigkeit einführen. Damit zeigt die Studie des TÜV-Verbands, dass es in der Bevölkerung Mehrheiten für eine Verkehrswende in Deutschland gibt. Der Präsident des TÜV-Verbands, Michael Fübi, nannte bei der Vorstellung der Studie „die Neugestaltung des Verkehrsraumes und eine nachhaltige und sichere Mobilität“ als eine Kernaufgabe. „Mobilität ist vor allem dann gerecht, wenn unterschiedliche Verkehrsteilnehmende gleichermaßen sicher und schnell ans Ziel kommen. […] Städte wie Paris, Barcelona oder Kopenhagen zeigen, in welche Richtung sich die urbane Mobilität entwickeln kann“.

Reform des StVG





Einordnung/Kommentar:
Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Einhellige Erleichterung herrscht in der Fahrradbranche nach bangem Warten: Endlich wurde ein Kompromiss für die umstrittene Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) gefunden, so dass das modernisierte StVG nun am 14. Juni von Bundesrat und Bundestag beschlossen werden konnte. Viele hatten die Hoffnung schon aufgegeben, ob die Bundesregierung nach dem überraschenden Scheitern des Gesetzes am 24.11.2023 im Bundesrat noch einen Einigungsversuch unternehmen würde. Manche unkten, ein endgültiges Scheitern wäre dem Bundesverkehrsminister ohnehin entgegengekommen. Doch die lagen wohl falsch: Am 6. Juni nun hat die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss angerufen – und dann ging alles ganz schnell.

Derzeit überwiegt die Erleichterung eindeutig die Kritik am „Reförmchen“, wie viele das neue StVG nennen. Und tatsächlich ist es kein großer Wurf. Aber in diesen Tagen ist man auch schon für kleine Schritte dankbar. Außerdem lehrt ja die Erfahrung: Nach der Reform ist vor der Reform.

Im Koalitionsvertrag hatten sich die Ampel-Partner darauf verständigt, als Ziele im Straßenverkehrsrecht neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs auch den Klima- und Umweltschutz, die Gesundheit und städtebaulichen Entwicklung einzuführen, um Ländern und Kommunen mehr Entscheidungsspielräume zu eröffnen.

Dann wurde Volker Wissing Bundesverkehrsminister und das Thema war dem Ministerium offensichtlich nicht besonders dringlich. So dauerte es gut eineinhalb Jahre bis das BMDV einen ersten Referentenentwurf vorlegte. Der enttäuschte viele und wurde als „halbherzig“ kritisiert. Tatsächlich fehlte und fehlt im StVG ein entscheidendes Element: Das klare Bekenntnis zur Vision Zero („Jeder kommt an – keiner kommt um“). Dabei gehört diese zum Leitbild des Verkehrssicherheitsprogramms des Bundes. Die Vision Zero wäre im Gesetz ein klares Muss gewesen, sie hätte eindeutig zum Primat der Sicherheit im Verkehr gehört. Nicht nur die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten dies gefordert, auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Deutsche Verkehrswacht waren engagiert dafür.

Was bringt die Reform in der Praxis? Den vollständigen Artikel finden Sie hier.

Informationsdienst Fahrradwirtschaft exklusiv:

4 Fragen an ...

Christine Fuchs (AGFS)
Christine Fuchs ist seit 2013 hauptamtliche Vorständin der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen (AGFS). Die AGFS verfolgt in ihrer Arbeit die Vision der „gesunden Stadt“ und engagiert sich für eine qualitativ hochwertige, bewegungsaktivierende Infrastruktur. So soll die Stadt zum Lebens- und Begegnungsraum werden.
IFW: Die AGFS war vor über 30 Jahren bundesweit die erste der kommunalen, fahrradfreundlichen Arbeitsgemeinschaften, wie es sie inzwischen fast in allen Bundesländern gibt. Was ist Ihr Erfolgskonzept und wie groß ist die Akzeptanz in NRW heute? 

CF: Wir stehen im unmittelbaren Austausch mit den Kommunen und beziehen diese aktiv in die Entwicklung der AGFS ein. Die AGFS NRW passt ihre Formate und Produkte immer an die aktuellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder an. So stellen wir sicher, dass unsere Produkte stets praxisorientiert sind, entsprechend ist die Akzeptanz sehr hoch. Zum Erfolg trägt auch unser gutes Verhältnis zum Land und zu den kommunalen Spitzenverbänden bei. Dabei ist die AGFS NRW politisch neutral. Zudem stehen wir in einer engen Partnerschaft mit den relevanten Landesinstitutionen. Alle Akteure und Akteurinnen sind höchst engagiert und immer mehr Kommunen erkennen unseren Nutzen. Das zeigt sich auch an der Zahl der Neueintritte in die AGFS NRW: Sie ist – wie auch bei den Arbeitsgemeinschaften der anderen Bundesländer – in den letzten Jahren stark gestiegen. 

IFW: Vor einigen Jahren hat sich die AGFS NRW in „fußgänger-und fahrradfreundlich“ umbenannt. Was waren Ihre Beweggründe und gab es auch Gegenwind im Hinblick auf diese thematische Erweiterung?

CF: Unser Leitbild ist die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“. Es beinhaltet alle bewegungsbasierten Mobilitätsarten, wozu neben dem Radfahren natürlich auch das Zufußgehen zählt. Denn muskelbasierte Mobilitätsformen sind gut für die Gesundheit und können gleichzeitig die Lebensqualität in den Städten steigern. Gegen die Namenserweiterung gab es die Befürchtung, der Fußverkehr und der Radverkehr würden bei einer gemeinsamen Betrachtung ihr Einzel-Gewicht verlieren. Aber nur mit einem übergeordneten Ansatz können wir die Potenziale beider Verkehrsarten voll ausschöpfen. Es gibt viel mehr gemeinsame als trennende Argumente. Natürlich können wir nicht darüber hinwegsehen, dass auch der Fuß- und Radverkehr um die knappen Flächen konkurrieren. Umso wichtiger ist es, die teils unterschiedlichen Interessen in Einklang zu bringen und nicht gegeneinander auszuspielen.
IFW: In den letzten Jahren ist die verkehrspolitische Debatte um die Mobilitätswende in Deutschland deutlich rauer geworden. Welche Auswirkungen hat dieser Wandel für Sie in NRW in der praktischen Arbeit?

CF: Die meisten Projekte der Mobilitätswende dauern viel zu lang. Das führt zu Unzufriedenheit und Polarisierung. Die positiven Auswirkungen nachhaltiger Mobilität müssen schneller erlebbar werden. Angesichts knapper Kassen und des Personalmangels müssen Kommunen Prioritäten setzen. Deshalb empfehlen wir Sofortmaßnahmen für eine schnelle Umsetzung, z.B. bei Lückenschlüssen im Wegenetz. In unserer Loseblattsammlung finden Kommunen dafür eine Aufbereitung praxistauglicher Beispiele. Mit unserer Umsetzungsinitiative zeigen wir den Kommunen Möglichkeiten auf, wie sich Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und der Wirksamkeit von zusammenhängenden Netzen schnell realisieren lassen.

IFW: Die AGFS und die Arbeitsgemeinschaften anderer Bundesländer pflegen eine gute Zusammenarbeit, wenn sie auch sehr unterschiedlich aufgestellt sind. In welcher Weise ist eine institutionalisierte Kooperation auf Bundesebene denkbar und geplant, um auch in Berlin mit einer starken Stimme präsent zu sein und politisch Einfluss nehmen zu können?

CF: Dazu haben wir mit den AGFKs aus Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen/Bremen schon im Sommer 2023 ein Projekt gestartet. Unter dem Titel „AGFK Deutschland“ soll gemeinsam mit allen 13 Landesarbeitsgemeinschaften zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs ein länderübergreifendes Netzwerk entstehen. Unsere Ziele sind eine engere Vernetzung, mehr Sichtbarkeit für die Arbeitsgemeinschaften auf Bundesebene, die Vertretung der fachlichen Positionen der Kommunen und die Aktivierung von Synergien zugunsten des Zufußgehens und Radfahrens. Wir sehen uns dabei als Ergänzung der kommunalen Spitzenverbände.

Kurzmeldungen

Britta Sieper
Kopf des Monats
Sie hatte in den letzten Wochen gleich dreimal Grund zur Freude: Zunächst einmal wurde die Geschäftsführerin des Kinderradherstellers Puky, Britta Sieper, Ende April in den Vorstand des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) gewählt und wenig später konnte der Kinderradhersteller sein 75-jähriges Jubiläum feiern. Zudem wurde in Berlin Anfang Mai ein erster Puky Marken- und Concept-Store eröffnet.
Göttinger Radentscheid beschlossen
Göttinger Radentscheid beschlossen
Die Mobilitätswende lebt – zumindest in Göttingen. Hier wurde am 9. Juni der „Radentscheid 1“ mit einer Mehrheit von 54,4% angenommen. Mehr als 9.000 Unterschriften hatten zuvor einen offiziellen Bürgerentscheid ermöglicht, an dem schließlich über 50.000 Einwohner*innen der Stadt teilnahmen. 46,1% votierten für den weitergehenden „Radentscheid 2“, der keine Mehrheit erhielt. Das Bürgerbegehren wurde von der Klimaschutzinitiative Göttingen Zero auf den Weg gebracht. Bis zum Jahr 2030 müssen die Inhalte des Radentscheids 1 nun umgesetzt werden. Die beschlossene Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) dürfte dieses Vorhaben nun erleichtern.
Zahl des Monats
Zahl des Monats: 31
Den 31. Newsletter für Politik und Verwaltung des IFW können wir Ihnen heute präsentieren. Vor drei Jahren starteten wir im Dreier-Team unser Konzept, spannende Informationen aus der Fahrradwirtschaft speziell für Sie in Politik und Verwaltung kompakt aufzubereiten – ausgewogen und unabhängig. Dass wir damit auf dem richtigen Weg sind, bestätigen uns die Feedbacks von Leser*innen. An dieser Stelle möchte ich mich als Herausgeber ganz herzlich bei Hendrikje Lučić und Anne Kreidel bedanken, die durch ihre hervorragende Arbeit mit dafür sorgen, dass der Newsletter für Sie interessant und gut lesbar ist. Um das Konzept auch künftig tragfähig aufzustellen und weiterzuentwickeln, arbeiten wir aktuell an ein paar Neuerungen, über die wir Sie im nächsten Newsletter informieren werden.
Bild des Monats
Bild des Monats: Produktwerbung ist nicht unsere Sache beim IFW, aber diese Kreation eines kompakten Lastenrades zum Hundetransport hat uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert – und das geben wir gerne an Sie weiter. Das Produkt ist auch für altersschwache Hunde geeignet, Dank ausziehbarer Komfort-Treppe. Der demographische Wandel macht schließlich auch vor Hunden nicht Halt.

Termine

  • Die weltweite Leitmesse der Fahrradwirtschaft Eurobike lädt vom 3. bis 7. Juli zum Besuch in Frankfurt ein. Die ersten drei Tage sind dem Fachpublikum vorbehalten. 

  • Am 12. September findet in der Berliner Landesvertretung von NRW der vivavelo Kongress der Fahrradwirtschaft statt, der gemeinsam von den Verbänden VSF, ZIV und Zukunft Fahrrad getragen wird. Die Veranstaltung wird von einem Parlamentarischen Abend abgerundet. 
     
  • Vom 18. bis 20. Oktober dreht sich in Dresden alles um handgemachte Fahrräder. Die Messe Bespoked hat dabei die Produzent*innen, Vordenker*innen und Liebhaber*innen individueller Fahrräder im Fokus.

  • Nach der laufenden Sitzungswoche geht es im Deutschen Bundestag vom 1. bis 5. Juli gleich weiter und anschließend in die Parlamentarische Sommerpause, die am 9. September endet. Die nächste Sitzung des Bundesrats ist am 5. Juli. Die Ausschüsse des Bundesrats tagen in KW 25.
  • Der nächste Newsletter Fahrradwirtschaft Insight erscheint am 5. September.

Team Fahrradwirtschaft Insight

Team Fahrradwirtschaft Insight
Herausgeber des Newsletters ist Albert Herresthal. Durch seine langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer des Verbund Service und Fahrrad (VSF e.V.) ist er mit den relevanten Köpfen aus Politik, Verwaltung und Fahrradwirtschaft bestens verbunden. Er ist für das Konzept und die inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich.

Auch Hendrikje Lučić (links) verfügt über langjährige Erfahrung in der politischen Arbeit. Seit 2021 verantwortet sie die Politische Interessenvertretung beim Bundesverband der Deutschen Sportartikel-Industrie (BSI). Sie ist für die inhaltliche und strategische Ausgestaltung des Newsletters mitverantwortlich.

Anne Kreidel ist Fundraiserin und hat lange im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit gearbeitet. Sie ist in Unternehmen, in Fahrrad- und Kulturorganisationen tätig. Im Team Fahrradwirtschaft Insight übernimmt sie die Umsetzung und den Versand des Newsletters.
Fotonachweise in der abgebildeten Reihenfolge: 1. Eurobike Frankfurt, 2. Kompetenznetzwerk Umweltwirtschaft NRW, 3. Schwalbe / Ralf Bohle GmbH, 4. GfK Konsumklima, 5. TÜV Verband, 6. pd-f / Kay Tkatzik, 7. AGFS, 8. Spielzeug International, 9. Göttingen Zero, 10. Antonia Richter, 11. Chike/Hartje, 12. Antonia Richter
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